Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 21


Die morgendlichen Treffen der drei waren inzwischen fast zu einem festen Bestandteil ihres Tagesaublaufs geworden. Über die vielen Ereignisse, die sich um diesen Mordfall ansammelten, hätten sie sich kaum noch austauschen können. Seit langem trafen sie sich regelmäßig abends in der Walkriede, aber inzwischen waren sie so oft abends noch unterwegs, dass sie jede Gelegenheit nutzten, um ihre Informationen den anderen mitzuteilen.
"Na, das ist ja ein Ding. Der Botschafter. Wer hätte das gedacht?"
"Ich auf jeden Fall nicht."
"Den sind die Bücher anscheinend ziemlich wichtig."
"Und was jetzt?"
"Wir machen weiter. Hilft ja nichts. Bringt uns ja nichts."
"Also machen wir mit der Liste weiter."
"Ich muss getze erst Mal zum Dienst."
"Und ich muss in die Uni. Wenn das so weitergeht, schaff ich das Studium nicht."
"Ich kann auch erst später. Ich muss noch einiges für Apfelhelm erledigen."
"Du meinst Geschirr und Müll und so?"
Malandro warf Tiscio einen bösen Blick zu, Gunnar wollte jedoch den anstehenden Streit nicht abwarten und warf schnell "Ich werde in der Bibliothek noch nach anderen Büchern über den Mahlstrom suchen. Vielleicht können wir so noch was Neues darüber erfahren", ein.
Seine beiden Freunde wendeten sich ihm zu, konnten aber kaum etwas zu seinem Einwurf vorbringen. Schließlich zog Malandro die Schultern hoch. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es nichts mehr zu bereden gab, weswegen sie sich trennten und ihren Tagesgeschäften nachgingen.
Dabei war Gunnars Vormittag sicher derjenige, der am meisten von der gewohnten Routine abwich. Es gelang ihm immerhin eine Vorlesung zu besuchen und ihr sogar halbwegs aufmerksam zu folgen, bis sich seine Gedanken erneut zu sehr ihrem Fall zuwandten. Er begann damit, auf dem Weg zur Bibliothek jedem Studenten die Liste der Namen vor die Nase zu halten und erhielt auf diese Weise elf weitere Adressen. In den Regalen der Geographieabteilung stieß er nach langem Suchen auf einige Berichte von Seefahrern, die entweder die wildesten Legenden über den Mahlstrom widergaben oder behaupteten, nur knapp seinem Sog entgangen zu sein. Mit ein paar Berechnungen und einer Weltkarte konnte Gunnar anschließend immerhin den Ort dieses mythischen Naturphänomens vor der Nordküste von Ka-uz lokalisieren. Allerdings war Ka-uz, der dritte bekannte Kontinent, eine weitgehend unerforschte Landmasse, dessen Küsten nicht einmal klar definiert waren, weswegen seine Feststellung nur noch mehr zum Geheimnis dieser fernen Küste beitrug.
Anschließend versuchte er noch sein Glück bei den Folianten der historischen Abteilung, stellte jedoch schnell fest, dass die Universität von Xpoch wenig Interesse an Ereignissen außerhalb des Einflussbereichs des Königreichs zu besitzen schien.
Aber immerhin gelang es ihm, in den folgenden Stunden weitere 20 Adressen den Namen auf seiner Liste hinzuzufügen, indem er erneut seinen Kommilitonen auf die Nerven ging. Mehr als die Hälfte der Adressen hatten sie jetzt, was kein schlechtes Ergebnis war. Trotzdem nahm Gunnar abstand davon, sich allein auf eine Besuchstour zu begeben. Immerhin suchten sie einen Mörder mit einem oravahlischen Schwert. Es erschien ihm wenig Sinnvoll sich einem solchen Gegner alleine entgegenzustellen.

Der Tagesablauf seiner Freunde war hingegen weniger Ereignisreich, wenn man von den üblichen Vorkommnissen absah, die aber kaum eine Erwähnung verdienten. Während Malandro eine Zeit lang seine Aufgaben im Haushalt erledigte, um endlich mit seinen Studien weiter machen zu können, ging Tiscio seine Runden durch die Stadt und schrieb anschließend den erwarteten Bericht, der schon nicht mehr ganz so viele Schreibfehler enthielt, wie noch zu Beginn seiner Ausbildung.
Für Tis wurde die erwartete Eintönigkeit in dem Moment über den Haufen geworfen, als er gerade seine Trillerpfeife in den Spint hängen wollte, ein Wächter aus den Tiefen des Metrowachtgebäudes in die Vorhalle gestürmt kam und alle Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er rief: "Es ist eingebrochen worden!"
Es dauerte einen Moment, bis die ersten wirklich begriffen, dass der Einbruch nicht von einem verängstigten Bürger gemeldet wurde, sondern ein Kollege die Nachricht übermittelte, zudem einer, der aus den eigenen Räumlichkeiten aufgetaucht war. Sobald jedoch die Ungeheuerlichkeit erfasst worden war, vervielfachten sich die Aktivitäten im Melderaum. Tiscio, als einer der wenigen, dem keine direkte Aufgabe mehr zugewiesen war, war unter den ersten, die Wachtmeister Keiring in den ersten Stock folgten.
So gelangten sie in die Asservatenkammer, die sie, entgegen jeglicher Vernunft, sofort füllten. Möglicherweise zerstörten die Bertis so einige Beweise. Man musste ihnen jedoch zugutehalten, dass jeder einzelne von ihnen sofort damit begann, die Regale nach fehlenden Gegenständen abzusuchen, was sich ohne einen Blick auf den Katalog verständlicherweise schwierig gestaltete. Trotzdem waren bald einige Feststellungen zu hören: "Sie sind durchs Fenster gekommen", war die eine, "Alle Bücher aus der Kiste sind fort", war die andere.
Als Oberwachtmeister Beulfung eintraf hatte ein kurzer Blick Tiscio bereits bestätigt, dass es sich bei den Büchern um die Tagbücher der Trenais handelte. Inzwischen stand er am Fenster und - ob es eine seiner seltenen Eingebungen war oder die Ausbildung zum Berti Wirkung zeigte spielte in diesem Augenblick keine Rolle - begann damit, von den verbogenen Stangen vor dem Fenster einige Spuren in sein Taschentuch zu kratzen.
"Verbogen!" wunderte sich ein Kollege neben ihm, "am helllichten Tag."
"Wie ist der überhaupt hier rauf gekommen", warf ein anderer ein. Tis blickte sich um und entschied, dass das eine überaus gute Frage war. Er hatte keine genaue Vorstellung davon, wie die Straße auf dieser Seite des Gebäudes aussah, weswegen er gleich darauf die Asservatenkammer wieder verließ und bis hinunter zur Straße lief, die sich eher als Gasse herausstellte, die aber immerhin einem Einspänner Platz geboten hätte. Die Asservatenkammer lag im ersten Stock. Mit dem Hochparterre und den hohen Decken bedeutete dies, dass man von einem mehr als fünf Meter großen Mann ausgehen musste, wenn man seine Phantasie darauf beschränkte, dass der Einbrecher an dem Ort gestanden hatte, an dem sich jetzt auch Tiscio befand. Eine solche Gestalt wäre aufgefallen und hätte zudem nicht durch die Gitter gepasst. Eine andere Möglichkeit wäre ein Turm aus Menschen gewesen, wie ihn Schausteller manchmal zeigten. Oder vielleicht ein Gestell oder eine Hebebühne. Aber all dies wäre aufgefallen, selbst wenn das diesige Tageslicht die Gasse nicht wirklich erhellte. Es war eine Gasse, trotzdem wurde sie von genügend Einwohner beschritten. Schließlich befanden sie sich gleich neben dem Marktzentrum und für die meisten Xpochler war ein Weg dorthin so gut wie der andere.
Magie war natürlich ebenfalls eine Option, die gerne von der Bevölkerung als Mittel für jegliches verderbte Verbrechen angenommen wurde. Und nachdem sich der Botschafter der [Hügelstätte] bei Unterschnitt gemeldet hatte und es sich um das Gestohlene aus den [Hügelstätten] stammte, war der Gedanke nicht einmal so abwegig. Aber warum hätte Kol Therond Unterschnitts Hilfe erbitten sollen, wenn er anschließend selbst zur Tat schritt? Tiscio hätte gerne dem Ausländer die Schuld gegeben, aber es fühlte sich in diesem Fall nicht richtig an. Natürlich legten die Ausbilder sehr viel Wert darauf, den Anwärtern einzuhämmern, dass ein Gefühl kein zuverlässiger Beweis war, aber die älteren Metrowächter, mit denen man im ersten Jahr seine Streifen gehen musste, legten mindestens genauso viel Wert darauf, ihnen beizubringen, dass sie auf ihre Gefühle hören sollten.
Sein Blick wanderte die Fassade hinauf während sich einige andere Metrowächter um ihn sammelten. Mit ihren Vorsprüngen, herausstehenden Schmucksteinen und den Ritzen im Mauerwerk wäre es früher für Skimir und ihn eine spannende Kletterpartie gewesen, damals, als sie noch ihre Nachmittage auf den Dächern der Stadt verbracht hatten. Nicht dass er sich je getraut hätte, die Metrowacht als Spielplatz zu verwenden. Dabei hätten ihn nicht einmal die Bertis, d.h. seine jetzigen Kollegen, abgeschreckt. Vielmehr wäre kein Mitglied der Feldstraßenbande auf die Idee gekommen, im Revier einer anderen Bande leichtfertig über die Dächer zu laufen.
Was in diesem Augenblick jedoch blieb, war die Überzeugung, dass der Einbrecher über das Dach gekommen war. Wahrscheinlich hatte er sich abgeseilt und irgendwie Halt an den Gittern gefunden. Wie es ihm dabei jedoch gelingen konnte, die Gitter zu verbiegen, wollte Tiscio noch nicht klarwerden.
Als er sah, dass Oberwachtmeister Beulfung, den er hier draußen gar nicht bemerkt hatte, mit strammen Schritten zurück in die Wacht ging, folgte er ihm. Er hatte eine Vermutung, wohin er sich begeben würde, und folgte ihm die Treppen hinauf in den vierten Stock und hinauf zum Oberlicht bis aufs Dach. Unterwegs hatte sich der Vorgesetzte den Wachhabenden der Asservatenkammer gekrallt und ihn mit sich gezerrt, um ihn auf dem Weg zu verhören.
Es gab einen Grund, warum der Wachtmeister dem weniger anstrengenden Innendienst zugewiesen worden war, und er hielt sich schweratmend am letzten Treppengeländer fest, während der Oberwachtmeister den Weg aufs Dach untersuchte. Immerhin hatte er es unterwegs noch fertiggebracht, seinem Vorgesetzten mitzuteilen, dass er während des Schichtwechsels um drei Uhr am Nachmittag das letzte Mal einen Blick in den Raum geworfen hatte, wodurch sich der Zeitraum immerhin auf die letzten zwei Stunden eingrenzen ließ.
Tiscio war der dritte, der es aufs Dach schaffte, nach dem Oberwachtmeister und einem anderen Kollegen. Er war ein wenig stolz darauf, dass er zu einem ähnlichen Schluss wie sein Vorgesetzter gekommen war. Der Stolz hielt jedoch nur kurze Zeit an und wurde schnell von einem sehr mulmigen Gefühl ersetzt, von dem er nur sehr ungerne zugegeben hätte, dass es sich um Höhenangst handelte. Die Häuser der Feldstraße waren nicht viel niedriger, aber wahrscheinlich genügten zwei Jahre ohne die Spiele seiner Jugend, um aus dem, was früher ein willkommener Nervenkitzel gewesen war, eine unwillkommene Furcht werden zu lassen.
Verkrampft hielt er sich an dem Fensterrahmen fest, durch den sie hinausgestiegen waren, und konnte doch nicht seinen Blick von der Dachkannte abwenden, die ihm nicht einmal den Blick auf den Boden erlaubte und trotzdem einen tiefen Sturz versprach, sobald er den Halt verlor.
Der Oberwachtmeister machte einen vorsichtigen Schritt weg vom Fenster und testete dabei die Dachziegel, zog sich dann jedoch wieder zurück und schickte Tiscios älteren Kollegen hinunter, um Seile und einen guten Kletterer heraufzuholen.

Tiscio krabbelte die Leiter wieder hinunter, half aber beim abseilen und konnte daher mithören, wie die Ergebnisse der Untersuchung einem seiner Kollegen zugebrüllt wurde, der sie notierte.
Tatsächlich fanden sich Spuren von irgendwelchen Gerätschaften an den Gitterstäben, mit denen sich der Einbrecher vermutlich oben angeschnallt und unten eingehakt hatte. Außerdem wurden noch einige Spuren von Klettermessern gefunden, die jemand zwischen die Ritzen des Mauerwerks gesteckt hatte. Es war jedoch möglich, dass diese bereits länger die Fassade verschandelten und auf einen früheren Einbruchversuch hindeuteten.

Als sie den Mann wieder eingeholt hatten, machte sich die gesamte Mannschaft wieder auf den Weg ins Erdgeschoss. Tiscios Dienst war zu Ende und er war dankbar, dass er nicht noch eine Sonderschicht einlegen musste, denn gerade wurden neue Patrouillen eingeteilt. Während er hastig seinen Tagesbericht beendete, nun etwas umfangreicher aufgrund der letzten Ereignisse, konnte er noch einige Gespräche belauschen, die sich mit dem Einbruch beschäftigten - mit was auch sonst. Offensichtlich war der derzeitige Konsens, dass das ganze etwas mit dem Mord dieses Professors zu tun hatte. War ja auch klar, stammten die Bücher doch aus seiner Wohnung. Und natürlich wurde Oravahl die Schuld daran gegeben. Der Bericht des Leichenbeschauers war anscheinend nicht ganz so verschwiegen behandelt worden, wie man es hätte erwarten sollen.
Was Tiscio jedoch erstaunte, waren ein paar Worte, die er beim Hinausgehen von seinem Oberwachtmeister auffing, der sich gerade mit einem anderen Offizier unterhielt: "Vielleicht auch nicht. Die [Hügelstätte] haben heute vorgesprochen."

Die Jungen aus der Feldstrasse